Kein Ungläubiger soll sich mehr sicher fühlen
Der „Islamische Staat“ foltert und mordet gezielt.
Der Plan dazu stammt von Terrorstrategen. Einer von ihnen ist Abu Bakr Naji,
der ehemalige Chefdenker von Al Qaida. Das Ziel ist der Kollaps jeder Ordnung.
FAZ 20.04.2015, von Eugen Sorg
Wie gebannt starrt der Westen auf
die unerhörten Grausamkeiten des „Islamischen Staates“ - und läuft dabei
Gefahr, den größeren Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. Die Schlächter
des IS handeln nicht im archaischen Blutrausch, sondern gehen gezielt vor. Als
Salafisten folgen sie einerseits strikt dem Vorbild des Propheten. Die
Massenenthauptungen, Kreuzigungen, Versklavungen und Steinigungen sind exakte
Neuinszenierungen historischer Ereignisse, wie sie im Koran und in den sakralen
Berichten über Mohammed aufgeschrieben wurden.
Andererseits orientieren sie sich
an zeitgenössischen Theoretikern des Dschihad wie Abu Bakr Naji, einem
mutmaßlichen Ägypter und ehemaligen Chefdenker von Al Qaida. 2004 war dessen
Studie „The Management of Savagery“ (Die Verwaltung der Barbarei) auf Arabisch
(„Edarat al-Wahsh“) online erschienen, 2006 wurde sie auch ins Englische
übersetzt. Es ist ein trockenes Strategie-Handbuch für Dschihadisten, ein
nüchternes intellektuelles Manifest zur islamischen Welteroberung. Auf
erschreckend genaue Weise nimmt es das Handeln des IS in Syrien und dem Irak
vorweg, aber auch dasjenige anderer Trupps wie Boko Haram in Nigeria oder
vieler Einzeltäter wie den Bostoner Bomben-Brüdern, dem Attentäter von
Toulouse, den Londoner Schlächtern des Soldaten Lee Rigby, den jüngsten
islamistischen Mördern in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Paris und in
Kopenhagen.
Usama Bin Ladin hatte noch
spekuliert, dass einige spektakuläre Anschläge die Amerikaner - als Anführer
der „Ungläubigen“ - in eine politische Krise stürzen würden. Aus dieser sollte
dann der Verlust ihrer globalen Dominanz folgen. Die entschlossene und harte
Reaktion der Amerikaner auf die Attentate vom 11. September aber zeigte, dass
man sich verschätzt hatte. Daraufhin entwickelte der Theoretiker Naji das Konzept,
dass der Dschihad weltweit auf alle Länder mit muslimischen
Bevölkerungsanteilen ausgedehnt werden sollte.
Mit „unzähligen kleinen
Operationen“ soll der Alltag der „Ungläubigen“ und deren Kollaborateuren
unerträglich gemacht werden, und zwar aus dem Schutz glaubenstreuer Milieus in
den arabischen, asiatischen und afrikanischen Kernländern heraus, aber auch aus
den wachsenden islamischen Parallelgesellschaften in den westlichen Staaten.
Keiner soll sich mehr sicher fühlen können. Naji empfiehlt Kidnapping,
Geiselnahme, Verwendung von Frauen und Kindern als lebende Schutzschilde,
öffentliche Tötungen, Selbstmordattentate, aber auch Anschläge auf Ölfelder,
Häfen, Flugplätze, Touristentreffpunkte.
Das Ziel ist der Kollaps der Ordnung,
die Schaffung von Zonen der Gesetzlosigkeit, des Chaos, der Wildheit. Dort
herrschen die idealen Bedingungen, um die Scharia einzuführen. In einer
Situation der Barbarei und Willkür, so Naji, würden sich die Leute jedem
unterwerfen, egal ob gut oder böse, der ihnen Sicherheit und Überleben
garantiert. Dies entspreche der „menschlichen Natur“.
Naji sieht
in einer ganzen Reihe von muslimischen Ländern vielversprechende Kandidaten für
die Verwaltung der Barbarei, unter ihnen Afghanistan, Irak, Libanon, Ägypten,
Somalia, die Maghreb-Staaten inklusive Libyen, aber auch Saudi-Arabien,
Pakistan, Jemen, Türkei und Jordanien. Diese Liste als größenwahnsinnige
Träumerei abzutun wäre voreilig. Mindestens zwei Länder, die sogar Naji 2004
noch als stabil eingeschätzt hatte, Mali und Syrien, waren oder sind
mittlerweile Chaosregionen.
„Der Westen“, diagnostiziert der
Terrorstratege, „hat nicht den Mumm für einen langen Kampf.“ Auch Amerika, die
letzte Bastion der Ungläubigen, bringt den Willen dazu trotz überlegener
Feuerkraft langfristig nicht mehr auf. Das einzige wahre Hindernis auf dem Weg
zur Errichtung der Herrschaft Allahs liegt bei den Muslimen selbst. So zum
Beispiel, wenn sie sich Weichheit erlauben. Weichheit führt zum Verlust von
Stärke und ist einer der Faktoren des Scheiterns. „Wir müssen den Dschihad mit
äußerster Gewalt führen, so dass der Tod nur einen Herzschlag entfernt ist.“
Dies ist der Weg zum Sieg über die Westler: rohe, schockierende Gewalt. „Wir müssen
den Feind massakrieren und ihm einen Schrecken einjagen.“
Aber auch die muslimischen Massen
werden durch die Logik des Massakers, ob sie es wollen oder nicht, in die
Schlacht hineingezogen. Gewalt ist segensreich, schreibt Naji und verweist auf
die Strategien der zwei ersten Kalifen und Gefährten des Propheten Mohammeds,
als es darum ging, das entstehende muslimische Reich zu sichern. „Sie
verbrannten Leute bei lebendigem Leibe, obwohl dies abscheulich ist. Aber sie
wussten um die Wirkung von roher Brutalität in Zeiten der Not.“
Der grausame Inhalt der Schrift
steht im Gegensatz zum belehrenden, abwägend parlierenden Stil, in dem sie
verfasst wurde. Der offensichtlich gebildete Autor Naji kann auf 1400 Jahre
islamisches Herrschaftswissen zurückgreifen, auf eine imperiale Tradition der
Landnahme und Kunst der Unterwerfung ganzer Völkerschaften. Er beruft sich
unter anderem auf Ibn Taimiya, einen arabischen Theologen und Ur-Salafisten aus
dem 13. Jahrhundert - im Westen ein vollkommen Unbekannter, im Weltbild aller
frommen Dschihad-Soldaten hingegen eine verehrte Figur.
Aber Naji hat auch abendländische
Denker wie den Yale-Historiker Paul Kennedy aufmerksam gelesen, der mit seiner
1987 veröffentlichten Studie „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ und seinem
Begriff der „imperialen Überdehnung“ für Diskussionen über den Niedergang
Amerikas gesorgt hatte, unter den Eliten in Paris und Berlin ebenso wie in New
York. Zudem verweist Naji auf westliche Ethnologenberichte über das Verhalten
von Stämmen oder auf Erkenntnisse aus der Verwaltungswissenschaft.
Die besonnene Gedankenführung und
die rational anmutende Argumentation könnten jedoch darüber hinwegtäuschen,
dass Naji in der „Verwaltung der Barbarei“ ein irrationales, apokalyptisches
Projekt entwirft. Dessen Ideologie und Praxis sind mit den üblichen
Erklärungswerkzeugen des aufgeklärten Westens nicht zu verstehen. Ökonomie,
Soziologie, Politologie, Psychologie, alle gehen davon aus, dass menschliches
Verhalten letztlich rationalen Kriterien gehorcht, dem Kampf um Ressourcen, um
politische Macht, um kulturelle Würde, Selbstbestimmung, ein besseres Leben.
Die
Achillesferse des Westens ist das Mentale
An den Äußerungen Najis und
anderer Kalifatsutopisten fällt aber auf, dass sie keinen Gedanken daran
verschwenden, wie sie nach einer Machtübernahme Wirtschaft und Handel organisieren,
die Arbeitslosigkeit bekämpfen, das Gesundheitswesen einrichten wollen. Sie
liefern nicht mal den Hauch eines Konzepts, wie sie ihre Bevölkerung vor Armut,
Hungersnöten, Krankheiten bewahren wollen. Das reale, praktische Leben
interessiert sie nicht. Sie interessiert nur der Dschihad, der Krieg, die ewige
Schlacht für das erträumte Kalifat.
Der Dschihadismus ist ein
Todeskult. Sein zentrales Ritual ist das Menschenopfer. Aufnahme im Blutorden
findet derjenige, der einen lebenden Ungläubigen eigenhändig enthauptet. Zur
düsteren Ikonographie des IS gehört jenes Bild, auf dem ein australischer
Muslim zusammen mit seinem ungefähr achtjährigen Sohn zu sehen ist. Der hübsche
Junge streckt schüchtern lächelnd einen frisch abgeschnittenen Männerkopf in
die Kamera. Hinter ihm steht der Vater, strahlend, stolz. Die Gotteskrieger
sind auch jederzeit bereit, das eigene Leben zu opfern, wenn sie mit diesem Akt
nur möglichst viele Ungläubige in den Abgrund reißen können. Je gewaltiger das
Gemetzel, desto näher fühlen sie sich der Erfüllung. Der Untergang der Welt
bedeutet in der islamischen Mythologie die Geburt einer neuen, religiös
gereinigten Welt.
Militärisch hat der Westen von
den salafistischen Kriegern nichts zu befürchten, seine Armeen und Waffen sind
unvergleichlich stärker. Seine Achillesferse, dies erkannte Abu Bakr Naji
richtig, liegt im mentalen Bereich. Auf Grausamkeit, Boshaftigkeit und Horror
reagiert das verzärtelte westliche Gemüt mit Verleugnung, Kopflosigkeit und
Unterwerfungsreflexen. Und mit diesem „schwachen Magen“ der dekadenten
Ungläubigen rechnen auch Najis Nachfolger. Ob zu Recht, ist noch längst nicht
entschieden.
Dieser
Artikel ist aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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